Hagedorns Hybris

von Marcus Bernard Hartmann

Leseprobe

Das Wahre hinter dem Erzählten ist so evident wie das Verschwiegene in einer Realität.

Sophisma



Euch scheint wahrscheinlich neu und gar verwegen,
Ihr Anmutige, diese Beschreibung;
Nun sei es meines Liebestraumes Deutung,
Es sei auch meines neuen Stiles wegen.
Euch bewundernd, dies vor Tagen, welch ein Segen,
Schön und so liebreizend, in einfacher Kleidung,
Wollt' ich sogleich in feinfühligster Dichtung
Reimend dann euch glückselig in mir hegen.
So euch, der so innig ich ergeben bin,
Und der immerdar ich wünsch' zu dienen,
Erbitt' ich, meine Maria, nach eurem Sinn,
Wenn sollte doch versagen all mein minnen,
Zu tadeln auf jeden kleinsten Fehler hin,
Korrigierend dann mein unerfreulich Sinnen.
Ihr, Fiammetta, die ihr mir im Herzen brennt,
Der, der euch schickt nun diese Visionen,
Sich als Giovanni Boccaccio aus Certaldo bekennt.

(Aus Boccaccios Amorosa Visione)



Als das von Hagedorn Geschriebene, in einer Schublade seines Schreibtisches verstaut, weiß ich es augenblicklich; und daß ich von seinem Leben lesen werde. Kenntlich an der handgeschriebenen Überschrift: Niemandem zum Lesen. Rot unterstrichen. Obwohl gemahnt, nehme ich den Stapel Papier aus der Schublade und lege ihn auf den Schreibtisch. Schreibmaschinengeschrieben, auf wassergezeichnetem Papier, großzügige Ränder lassend und nur eine Seite nutzend (auf der unbeschriebenen wölben sich vor allem die Punkte), liegt da ein Leben vor mir. Traurigkeit überfällt mich, ein Gefühl der Einsamkeit. Ich spüre eine Befürchtung, die mich ahnen läßt, was ich da gefunden habe. Charakterlich ein unsteter Mensch, werde ich mich wahrscheinlich durch das Geschriebene hetzen, bis ich von seinem Leben erschöpft, auch an meinem zweifle. Hier, jetzt, an seinem Schreibtisch sitzend, werde ich lesen um auch mich zu verstehen. Ein Verlassener, kann er mir so nur Vertrauter werden. Niemandem zum Lesen; ich bin, weil er war, und niemand anders; eigentlich bin ich niemand.

Schreibtische sind Zustände der daran Schreibenden. Ich schaue auf den eines unentwegt suchenden und nachdenklichen Menschen. Nichts läßt allerdings darauf schließen, er könnte unsicher sein. Der Schreibtisch Hagedorns, aus Mahagoni, mit arabeskenförmigen Intarsien aus hellerem Holz, grünem Leder mit Messingnägelbordüre auf der Schreibfläche, sieht sehr edel aus, wie überhaupt Hagedorn seine Einrichtung mit Bedacht auf Stil ausgesucht hatte. Auf besondere Möbel trifft man in der ganzen Wohnung, so im hochgewölbten Eßzimmer ein dunkelbraun gebeizter massiver Eichentisch steht, und darum, mit blauem, goldgemustertem Stoff bespannt, dazu passende Stühle; so im Salon, an der Wand, die diesen in zwei Teile separiert (Wand, die eigentlich nur, dort hochgehende Kaminzüge kaschiert), ein imposanter Barockschrank mit reichverzierten Beschlägen imponiert; so im lichtdurchfluteten Vestibül eine Chippendale-Kommode und daneben stilfremd, doch passend, ein Louis XV. – Sessel für die elegante Ambiance sorgen. Und nicht minder stilvoll sind die Teppiche. Sehr wirkungsvoll vor dem Schreibtisch, hier im Salon, auf der geräumigen Seite – und geräumigeren auch, weil hier kein imposanter Barockschrank steht – liegt da ein chinesischer Seidenteppich, blau, mit einem Mäandermuster.

Es ist nicht lange her, da sprach Hagedorn einmal von einem laufenden Hund, den er zu Hause habe und der ihm sehr am Herzen läge. Ich wunderte mich, daß Hagedorn nicht nur von einem Hund, sondern auch noch von einem laufenden Hund sprach. Noch nie hatte ich jemanden gehört, einen Hund als einen 'laufenden' apostrophieren. Zunächst versuchte ich es mir selber zu erklären: Warum hatte Hagedorn betont, daß er einen laufenden Hund habe? Es laufen doch alle Hunde? Lahmend selbst Dreibeinige noch. Nun, es ergab sich eines Tages im 'Federale', einem Cafe beim Rathaus, daß wir draußen auf der Piazza saßen, und ich gerade einem Hund nachschaute und mich fragte, ob ich ihn als einen laufenden charakterisieren würde. Er, der Hund, hatte sonst nichts auffälliges. Nur eben, daß er rannte (was ja bei einem Hund nichts außergewöhnliches ist). So mußte ich Hagedorn meine dumme Frage stellen, was mit seinem Hund sei. Ähnlich meinem Ton frug er zurück: Mit seinem Hund? Täte ihm leid, er habe keinen Hund, antwortete er. Zahlte und wollte weiter. Er schien verwirrt, daß ich ihn nach einem Hund fragte, und gab mir zu verstehen, daß ich doch der Verwirrte sein müsse. Noch nie habe er einen Hund gehabt, sagte er so laut, daß sich jemand nach uns umdrehte, und lächelte, diskret, mit leicht verzogenen Mundwinkeln, wobei seine Amüsiertheit etwas das Zwerchfell anregte und er seinen Atem rhythmisch durch die Nase ausstieß. Hagedorn lachte lippenversiegelt; daran, daß er mal herzhaft gelacht hätte, kann ich mich nicht erinnern. Er gehörte zu denen, die unter keinem Niveau lachten. Ridikül war ihm alle Lustigkeit, und lächelte nur.

Als ich kaum noch auf eine Antwort hoffte, meinte er, hier läge wohl ein Mißverständnis vor. Uns sei doch öfters schon ein Mosaik auf dem Gehsteig vor dem Buchererschen Juwelierladen, aufgefallen, und das gleiche doch in seinem rahmenbildenden Muster, dem Mäandermuster, dem sogenannten laufenden Hund, dem Muster auf seinem Seidenteppich. Schrullige Gedankensprünge hatte Hagedorn ja schon immer. Zudem war sein Interessenhorizont derart weit, daß er nur zu leicht Assoziationen hatte, die einen zunächst irritierten. Universalität war ihm wahrlich nicht abzusprechen. Laufender Hund; daß man überhaupt für eine Verzierung auf eine so ungewöhnliche Bezeichnung kommt. Eigentlich kurios, zumal es sich um ein klassisches Muster handelt, ein seit den alten Griechen gebräuchliches, das ich der Bezeichnung nach, zuallerletzt mit den alten Griechen in Verbindung gebracht hätte. Sicher erkannt hätte ich das Muster, es sehend, allerdings schon, denn oft zu sehen, ist es nun wirklich. Es sei, das Muster, 'der laufende Hund', so Hagedorn, ein Höchstes stilisierten Empfindens. Nicht, daß er im entferntesten despektierlich sein wolle, aber Sinn für das Besondere, also Geschmack, entwickle nur, wer nicht meine ihn gefunden zu haben. Das Muster sei übrigens der Spur eines Hundes, der schnüffelnd öfters die Richtung ändere, nachempfunden. Man hätte dem Muster eigentlich die Bezeichnung 'schnüffelnder Hund' geben müssen (denn ein nur laufender Hund wechselt nicht so oft seine Richtung um ein Muster zu inspirieren); aber das war den Ästheten wahrscheinlich doch zu unästhetisch.

Ich kam mir vor wie ein einfältiger Banause: Ich verstand nichts von klassischen Verzierungen, die seit den alten Griechen zeitlos waren, und war darüber hinaus auch noch, was Teppiche anging, stillos. Es war schon eigenartig, aber mich störte doch tatsächlich, daß ich von Teppichen keine Ahnung hatte. Interessiert hatten sie mich zwar nie, aber irgendwie meinte ich, nachdem ich Hagedorn von Teppichen sprechen hörte, daß man über Teppiche Bescheid wissen müsse.

Hagedorn konnte über die unscheinbarsten, entbehrlichsten und überflüssigsten Dinge reden als wären sie das Wesentlichste überhaupt, ohne die man erst gar nicht anfangen solle über den Sinn des Lebens, über Ästhetik und Kunst zu sinnieren. Seine Ansichten überwältigten mich. Augenblicklich schien es mir unentbehrlich von den unterschiedlichsten Webtechniken, dem dreichorigen Tournai- oder Wilton-Teppich, dem Senneh-Knoten, dem Ghiordes-Knoten zu wissen, wenn man über Kunst eine Meinung haben wollte. Am nächsten Tag kam ich mir allerdings als jemand, der unbedingt über Teppiche Bescheid wissen müsse, eher albern vor. Fasziniert blieb ich dennoch von Hagedorns bedeutungsvollen Beschreibungen der entlegensten Themen. Und er mahnte auch immer wieder das Unscheinbare ja nicht zu übersehen.

Die Erinnerung, die der Teppich, den ich vor dem Schreibtisch nun vor mir liegen sehe, wachruft, hält mir Hagedorns Tod vor Augen. Wie ein Kind, das seinen Märchenerzähler vermißt, vermisse ich ihn, der mich staunen machte. Seine Geschichten, sinnbildlich erzählte Philosopheme, seine Meinungen aus dem Geist des inspiriert Suchenden waren nachdenklich formulierte Anspielungen, an das, was sein könnte, wenn das, was ist nicht derart impertinent wäre. Selbst in seinen unzufriedensten Kritiken lag noch der Versuch des Verstehenwollens. Immer hatte er die Hoffnung, daß das im Theater erlebte doch irgendwie durchdacht gewesen sein mußte; und verlor er nach ein paar Tagen die Hoffnung, so wurde er unglücklich; dennoch nie ein hämischer Schreiberling. Seine Meinungsverschiedenheit äußerte er mit dem Temperament des, seiner Meinung nach, Fehlschlagenden. Vergriff sich ein Regisseur an einem Theaterstück, so griff Hagedorn dementsprechend den Regisseur an. Wer hineininterpretierte was mit größtem Verständnis für die Deutung im Stück wahrlich nicht erkennbar war, den belehrte Hagedorn mit des Autors Worten aus dessen verhunztem Stück. So geschehen mit einem Regisseur, der Shakespeares 'Timon von Athen' inszeniert hatte. Dem Regisseur, der des Timons Fluchtiraden zu kürzen gewagt hatte, ließ Hagedorn über seine Kritik in der Zeitung wissen, durch eines Dichters Worte gleich am Anfang des Dramas: 'Wie ein Gewand ist unsere Poesie, heilsam, wo man es hegt. Das Feuer im Stein glänzt nur, schlägt man 's heraus.'

Das Drama gehöre sicherlich nicht zu den gelungensten Shakespeares, aber ihm mißfiel die Vernachlässigung des Dramas, und so verteidigte er den lebenswahren Dramenstoff erst recht. Es lag ihm viel am Timon, dem großzügigen Menschenfreund, und einmal in Not geratenen, von seinen vermeintlichen Freunden verschmähten, zum Menschenhasser gewordenen. Ich hatte das Gefühl, das Stück erzähle von Hagedorns eigenem Leben. Hagedorn schien ein Timon zu sein. Er sprach öfters mit dessen Worten und er kam mir so fremd dabei vor: 'So viel hiervon macht schwarz weiß, häßlich schön, schlecht gut, alt jung, feig tapfer, niedrig edel;' und man wußte was Hagedorn von denen hielt, die sich über das Geld definierten. 'Ein Schmeichler ist der Mensch. Wenn 's einer ist, so sind es all', und der, der es hören sollte, wußte was er dem Hagedorn war. Hagedorn konnte in Gesellschaft überaus provokant sein, aber eben nur gegenüber denen, die es seiner nach selber waren. Dem Timon, dem Misanthrop gewordenen Menschenfreund wäre er ein ebenbürtiger Zyniker gewesen; doch wir waren uns noch vertraut genug.

Hagedorn war verbittert nach Lugano gefahren. An unsere Begegnung erinnere ich mich noch gut. Wir trafen uns auf der Kastanienallee vor dem Museo d’Arte moderna, Hagedorn von Paradiso her kommend, und ich es verlassend, schnellen Schrittes plötzlich an seiner Seite gehend. Ich hatte sogleich vermutet, daß er es sein müsse. Hagedorn erinnerte in Manchem an Oscar Wilde. Ob er auf die Ähnlichkeit aus war, habe ich von ihm nie erfahren. Von Wilde sprach er ganz unbefangen, ich hätte nicht sagen können, daß dieser ihm mehr am Herzen gelegen wäre als irgend ein anderer Dichter oder Schriftsteller. Das einzige Mal da ich Hagedorn auf seine Ähnlichkeit mit Oscar Wilde ansprach, antwortete er mir: »In Wahrheit spiegelt die Kunst den Betrachter, nicht aber das Leben wider.«

Über diese Antwort hatte ich nachzudenken und frug weiter wegen der Ähnlichkeit nicht nach. Zunächst fehlte mir in Hagedorns Äußerung der Zusammenhang zu dem, was ich sagte. Mir kam der verwegene Gedanke, er verstehe sich als Kunstwerk. Wilde war ein solcher Mensch, ein sein Leben inszenierender. Auch wenn ich 's mir wahrscheinlich zu einfach machte, ich kam jedenfalls zu dem Schluß, daß mir Hagedorn wohl sagen wollte, ich sähe von ihm lediglich was mir unbekannt sei. Noch hätte ich das Bedürfnis dem mir Unbekannten ein Bild zu geben, das erst verschwinde, wenn ich das wahre erkannt hätte und des Scheins nicht mehr bedürfe. Die Menschen seien nicht das, was ich in ihnen sehen will, und wenn ich in ihnen nur das sähe, was ich auf den ersten Blick von ihnen halte, dann würde ich auch mit ihm Schwierigkeiten bekommen. Nicht er sei Oscar Wilde ähnlich, sondern das Bild, das ich durch Wilde mir von ihm mache. Ich verzerre. Ich wolle ihm doch nicht sagen, daß allein sein gewelltes Haar, seine elegante Garderobe, seine distinguierte Sprechweise Wilde assoziiert hätten – schien er mir mit dem einen Satz sagen zu wollen. Daß Hagedorn einen Gedanken Wildes aus dessen Einleitung zu seinem Roman 'Das Bild des Dorian Gray' zitiert hatte, fand ich superb. Ich erfuhr von der Herkunft des Zitats allerdings erst als mir Hagedorn eines Tages empfahl – dies nach einem Museumsbesuch in der Villa Favorita, wo wir das Portrait eines Jünglings bewunderten – doch Wildes Buch zu lesen. Über Wilde unterhielten wir uns öfters; und gerne, und ich vermied stets die offensichtliche Ähnlichkeit anzusprechen; sie wäre aber auch, wie ich über die Zeit erfuhr, wirklich nur eine äußerliche gewesen.

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