Hagedorns Hybris

von Marcus Bernard Hartmann

Leseprobe

Das Wahre hinter dem Erzählten ist so evident wie das Verschwiegene in einer Realität.

Sophisma

»Was kostet das Buch?« »Das Buch kostet Sie das Leben.«
Die Buchhändlerin hatte nur kurz aufgeschaut, flüchtig das Buch in Bernds Hand wahrgenommen und dann, wieder auf den Stapel der von Hand beschriebenen Blätter starrend, den Preis genannt, als wäre dieser ein im Handel üblicher.
Die Antwort hatte ihre Wirkung nicht verfehlt: Irritiert stand Bernd mitten im Laden und starrte auf die über den Schreibtisch gebückte Frau, auf deren ergrautes Haar, auf die knochigen Finger der linken Hand, die am unteren Ende der Blätter ruhten und das jeweilige dann abrupt wendeten. Bernd mutmaßte, sie suche ungeduldig nach einer bestimmten Textstelle. Außerdem hatte die Frau etwas Geheimnisvolles an sich und verlieh mit ihrer Erscheinung dem Buchladen eine seltsam unwirkliche Stimmung.
Das Buch, das Bernd ausgesucht hatte, hatte er in einem Regal so ziemlich im hintersten Eck des Ladens entdeckt, dort, wo dieser am unheimlichsten war. Bernd hätte nicht sagen können, warum er ausgerechnet ein Buch in die Hand genommen hatte, dessen Lektüre anscheinend das Leben kosten würde. Die ersten Sätze hatten ihn allerdings wie ein Wirbel in eine deutungsvolle Tiefe gerissen; das Buch wieder zurückzulegen, wurde unmöglich.
Das Muster des kartonierten Buches erinnerte Bernd an die Tapete, die das altmodische Wohnzimmer seiner verstorbenen Tante schmückte. Auf einem in der oberen Hälfte des kleinformatigen Buches aufgeklebten Etikett stand in antikisierender Schrift der Titel: Hagedorns Hybris.
Der Buchhändlerin eine weitere Frage zu stellen, kam Bernd vor, als würde er vor die höchste Instanz eines Weltgerichts treten: »Ein Buch, das zu lesen einem das Leben kostet. Wie viele Leser sind denn schon daran gestorben, wenn ich Sie das fragen darf?«
»Die Liste der Namen auf der letzten Seite des Buches weist auf diejenigen, die die Lektüre überlebt haben.«
Bernd hatte das Gefühl, die Buchhändlerin habe ihm nur widerwillig geantwortet. Als er die letzte Seite aufschlug und eine Reihe handgeschriebener Namen sah, glaubte er von jedem das Glück einer überlebten Lektüre wahrzunehmen: Hans Eibener, Renate Mertens, Agatha Nyndanissen, Nicole Hubert, Erik Saljuste, Stefan Esterulve.
»Weiß man auch, wer die Lektüre nicht überlebt hat?«
»Sie können davon ausgehen, dass der, der daran gestorben ist, keine Möglichkeit mehr hatte, seinen Namen auf die letzte Seite des Buches zu schreiben.«
»Wie kommt es dann, dass Sie das Buch noch im Sortiment haben? Das ist doch überhaupt ungewöhnlich, dass Sie von Lesern ein verkauftes Buch wieder zurückkriegen. Erst recht, wenn einer der Leser tatsächlich daran verstorben ist.«
Geduldig wartete Bernd auf eine Antwort, doch die Buchhändlerin hatte endlich die lang gesuchte Textstelle gefunden und schien die Frage überhört zu haben. Da er aber der Meinung war, eine Buchhändlerin habe in einem Buchladen einem am Kauf eines Buches interessierten Kunden zur Verfügung zu stehen, hatte er mittlerweile nicht das Gefühl, unhöflich zu sein, wenn er auf eine Antwort bestand.
»Woher wollen Sie das wissen, dass jemand an der Lektüre des Buches gestorben ist? Der Verstorbene wird Ihnen ja wohl kaum das Buch vorbeigebracht haben.«
Als die Buchhändlerin das Blatt umdrehte, auf dem sie länger als auf dem vorherigen gelesen hatte, sagte sie: »Die Frau eines Verstorbenen hatte einmal das Buch zurückgebracht; sie wusste nicht wohin damit und wegschmeißen wollte sie es nicht.«
»Die Frau eines Verstorbenen hat Ihnen das Buch zurückgebracht?«
»Nein, natürlich nicht. Sie wollte noch an die tausend weitere loswerden.«
»Die Sie, wenn man sieht, wie viele Bücher sich auf dem Boden stapeln, dann wohl auch angenommen haben.«
»Der tote Ehemann war ein anspruchsvoller Leser gewesen; er besaß interessante Bücher. Die Frau war übrigens sehr überrascht, dass ich auf einen Kaufpreis bestand.«
»Das war aber sehr anständig von Ihnen. Da kenne ich ganz andere Leute; schätzen die angebotenen Bücher als wertlos und wissen genau, dass für das eine oder andere Buch Liebhaber bereit sind, hohe Summen zu bezahlen.«
Wortlos bestätigte die Buchhändlerin mit leichtem Kopfnicken Bernds Feststellung. Sie wusste nur zu gut, wie stolz Kollegen waren, wenn sie einem unwissenden Verkäufer ein wertvolles Buch abluchsen konnten, und dass jemand vor ihr stand, der Derartiges missbilligte, ließ sie etwas zugänglicher sein.
Der nächsten Frage des im dunkelblauen Mantel vor ihr stehenden Herrn (und der, wie sie erst jetzt wahrnahm, auch einen schwarzen Hut trug) hörte sie nun aufmerksamer zu.
»Wissen Sie noch, wer das Buch nach dem Verstorbenen gekauft hat?«
»Es war Nicole Hubert.«
»Demnach haben also drei Leser die Lektüre überlebt und erst dann nur einer nicht? Und warum bringen die überlebenden Leser das Buch zurück? Und schreiben auch noch ihren Namen auf die letzte Seite des Buches? Warum?«
»Nehmen Sie das Buch mit, dann wissen Sie es.«
»Und wenn ich die Lektüre nicht überlebe?«
»Dann könnte es sein, dass ich das Buch zum ersten Mal nicht wieder zurückbekomme.«
»Und wenn Sie das Buch nicht mehr zurückkriegen, weil es mir so wichtig geworden ist, dass ich es behalten will? Ich immer wieder einmal darin lesen möchte? Ich meine: Ich habe noch nie einer Buchhandlung ein Buch zurückgebracht. Mir sind Bücher wichtig; habe ich mit einem eine besondere Zeit verbracht, möchte ich es weiterhin in meiner Nähe wissen.«
»Vielleicht auch deshalb, weil zu lesen zu leben bedeutet?«
»Ja. Genau deshalb.«
»Na dann. Wenn Sie wissen wollen, warum Sie mir das Buch wieder zurückbringen werden, so nehmen Sie es mit.«
»Na ja; der Preis des Buches hat so seine suggestive Wirkung.«
»Bravo. Eigentlich haben Sie schon angefangen, darin zu lesen.«
»Na gut, ich nehme es mit. Was kostet es denn? Ich meine zusätzlich, dass es mich mein Leben kosten kann.«
»Nur Ihren Mut das Buch mitzunehmen. «
Mit dem Mut das Buch mitzunehmen, hatte Bernd auch das Gefühl, dass etwas Ungeheuerliches in sein Leben getreten war. Nicht dass er Angst gehabt hätte, doch er war sich sicher: Der Besuch der Buchhandlung hatte sein Leben verändert. Betreten hatte er die Buchhandlung, weil im Schaufenster Bücher von Hermann Hesse auslagen, noch dazu in deutscher Sprache, wo doch in Estland sicherlich die allerwenigsten Deutsch sprachen.

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