Das fehlende Portrait

Leseprobe

Die Geschichte, die ich mich nun anschicke zu erzählen, die Geschichte einer Reise durch vergessene Landschaften und erinnerte Zeiten, ist selbst mir, der ich sie erlebt habe, noch immer recht verwunderlich. Und eigentlich erzähle ich sie, um die Reise Revue passieren zu lassen, um mich zu vergewissern, dass alles war, wie es geschehen ist. Denn manchmal glaubt man doch, das Erlebte könne unmöglich nur einfach so geschehen sein, sondern es müsse da etwas sein, das das Geschehene ins eigentliche Licht rückt. Im Halbdunkel rätselhafter Begebenheiten geschieht mir so manches, das ich nicht sein lassen kann, ohne es hinterfragt zu haben; ich bin skeptisch, wenn es darum geht, Geschehenes als etwas Bestimmtes zu verstehen.
Verwirrt bin ich allerdings auch, weil ich auf Dinge aufmerksam wurde, die zwar ohne weiteres möglich sind, die aber, wenn sie einmal auffallen, einen derart beschäftigen können, dass sie dann doch schwer zu glauben sind. Es ist verwirrend, ich weiß, aber genau deshalb muss ich die Geschichte erzählen, denn nur darüber nachzudenken, hilft mir nicht wirklich weiter.
Ans Erzählen also, auf dass sich alles von selbst erkläre, auch wenn die genaueren Umstände, die einst das Leben der hier erinnerten Menschen ausmachten, nur wenig mehr als eine vergessen gegangene Vergangenheit sind. Das in der Erinnerung übrig Gebliebene sammelt sich, mit dem Wunsch das Geschehene zu verstehen, zu dem hier Erzählten.

Es nahm seinen Anfang an einem Tag lethargischer Schwere. Lustlos, keiner Regung fähig, lag ich im Bett und schaute durchs Fenster in einen Himmel, der nichts von einem angenehmen Frühlingstag versprach. Dabei hätte ich allen Grund gehabt, überglücklich selbst dem depressivsten Wetter zu entkommen, denn ich hatte am Tag zuvor den Doktortitel in Philosophie bekommen, dank einer aus der Sicht meines Doktorvaters hervorragenden Arbeit über Etienne Bonnot de Condillacs Abhandlung über die Sinneserkenntnis, die mich Jahre beschäftigt hatte. Es faszinierte mich und tut es nach wie vor, dass es im Geschehen der Welt Dinge gibt, von denen ich nicht weiß, die aber dann, wenn ich von ihnen weiß, von etwas, das nur mir eigen ist, bestimmt werden. Tja, kann die Welt für den Einzelnen jemals mehr sein, als das, was er von ihr wahrnimmt?

Meine Großmutter hatte mir bei meinem letzten Besuch, eine knappe Woche vor der Abgabe der Doktorarbeit, einen Scheck über fünfzehntausend Euro in die Hand gedrückt, mit den Worten, dass sie stolz auf mich sei und ich mir eine Belohnung verdient habe und dass Großvater noch viel stolzer gewesen wäre, hätte er es erleben dürfen: sein Enkel, Doktor der Philosophie wie er selbst.

Das Geschenk sollte eine Reise finanzieren, die, wie ich mir vorgenommen hatte, gleich am Tag nach dem Erhalt meiner Promotion losgehen sollte. Wohin ich reisen wollte, war mir zwar noch nicht ganz klar, aber es hätte sich sicherlich eine Destination finden lassen, spontan am Bahnhof, denn ich wollte unbedingt mit dem Zug auf Reisen gehen.
Und dann kam es an jenem Tag anders als vorgesehen, und statt in einen Zug zu steigen, lag ich sogar am Nachmittag noch im Bett; mir fehlte die Lust, überhaupt etwas zu tun. Vielleicht war es die Erschöpfung über das Glück, das ich in jenen Tagen erlebte, immerhin war endlich geschehen, woraufhin ich einige Jahre hingearbeitet hatte. Wie bei einem Marathonlauf die Anstrengung nach dem erreichen des Ziels sich schlagartig bemerkbar macht, so schien sich in mir all die Mühe über Condillacs Abhandlung, in der Erschöpfung nach dem Erhalt der Doktorwürde zu zeigen. Jedenfalls lag ich im Bett ohne die geringste Lust jemals wieder einer logischen Folgerung nachzugehen; und deshalb blieb ich liegen, um nichts erzwingen zu müssen.

Das fahle Tageslicht fiel ohne Ermunterung über das heillose Durcheinander in meinem Zimmer. Alles lag da und hatte seine Bedeutung verloren. Ich schaute auf mein Bücherregal und fragte mich, ob ich in dem roten Buch ganz am Ende der obersten Reihe jemals gelesen habe. Irgendwie reihten sich die Buchrücken zu einem nichts sagenden Codestreifen. Wie auf einer Verpackung der Codestreifen dem menschlichen Auge nicht verrät, dass es sich um eine Tüte Chips handelt, so reihten sich die Bücher zu einer für mich völlig belanglosen Abfolge. Ich konnte mich an keines der Bücher erinnern. Es hatte etwas Erschreckendes: als wäre mir die Welt abhanden gekommen, so starrte ich auf die Bücher, die mich haben werden lassen, wer ich seit einem Tag endlich geworden war. Dann fiel mir aber plötzlich eine Lücke auf, ein fehlendes Buch, im obersten Regal, das ich nur mithilfe eines Stuhls hätte erreichen können. Besonders seltsam war, dass, obwohl mein verwirrter Geisteszustand zu keiner vernünftigen Gedankenfolge in der Lage war, ich mich sofort daran erinnerte, welches Buch da oben fehlte. Wäre dort keine Lücke gewesen, wäre dort Eine kurze Geschichte der Zeit von Stephen Hawking gestanden, ein populärwissen-schaftlicher Versuch interessierten Lesern unter anderem eine kosmologische Vorstellung der Zeit näher zu bringen. Aus dem Buch habe ich gelernt, dass die Vergangenheit ein zeitgleiches Ereignis mit der Gegenwart sein kann, da der Blick in den Nachthimmel mit dem Leuchten der Sterne immer der Wahrnehmung einer Vergangenheit gleichkommt, die für mich eben erst jetzt ist, weil ich sie erst jetzt wahrgenommen habe; ein weiter weg geschehenes Ereignis braucht halt seine Zeit, bis es in den Bereich unserer Wahrnehmung gereicht. Etwas Vergleichbares kann sein, dass wenn gerade jetzt irgendwo auf der Welt eine mir bekannte Person stirbt, diese Person für mich noch immer lebt, und zwar genau so lange, bis ich von ihrem Tod erfahre. Das Buch habe ich von einer ehemaligen Freundin geschenkt bekommen; ich weiß noch nicht einmal, ob sie noch lebt.

Die Lücke, die das fehlende Buch hinterließ, machte mich also auf eine Abwesenheit aufmerksam, die mich augenblicklich beschäftigte. Wo war das Buch, das, seitdem ich es hatte, nie woanders stand als dort, wo es nicht mehr war – mit der Ausnahme der Zeit seiner Lektüre natürlich. Hatte ich es vielleicht jemandem geliehen? Wann hatte ich das Buch das letzte Mal in der Hand? Seit wie lange bestand dort im obersten Regal die Lücke in der Reihe der Bücher? Die Fragen nach dem Verbleib der etwa zweihundert Seiten – die Breite der Lücke ließ mich dies vermuten – beschäftigten mich dermaßen, dass ich nicht mehr tatenlos im Bett liegen bleiben konnte und in der Unordnung meines Zimmers begann nach dem Buch zu suchen. Unter den am Tag davor getragenen Kleidern lag es nicht, unter den Stapeln der zuletzt benötigten Bücher auch nicht, und während ich diese wieder in die Regale räumte, fragte ich mich, warum mich ausgerechnet die Lücke im obersten Regal derart beschäftigte, wo sich doch in den Regalen unter dem obersten wahrlich genug Lücken zeigten. Vielleicht war dem so, weil mein ausgestreckter Arm nicht bis dort hinauf reichte und ich also entschieden hatte, selten benötigte Bücher dort hoch zu stellen. Die oberste Etage meines Bücherturms hatte irgendwie etwas von einem geheimnisvollen Dachboden in einem geschichtsträchtigen Haus.

Als ich den Band eines Lexikons, der aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag, aufräumen wollte, fiel mir auf, dass aus dem Buch eine Seite herausgerissen worden war, sorgfältig zwar, aber eben doch herausgerissen. Mir muss es wohl, als ich nach dem benötigten Begriff suchte, nicht aufgefallen sein, denn ich hätte diese Ungeheuerlichkeit bestimmt nicht übersehen. Jetzt aber, wo mir schon das fehlende Buch aufgefallen war, fiel mir auch die fehlende Seite auf. Und es passierte dasselbe wie vorhin mit dem Buch: Ich wollte unbedingt wissen, was auf der fehlenden Seite geschrieben steht. Es konnte kurioser nicht sein: An einem Tag, der nicht lustloser hätte beginnen können, an dem mit mir das Schicksal zunächst nicht im Geringsten etwas vorhatte, beschäftigten mich plötzlich eigentlich vollkommen unscheinbare Dinge auf so unnachgiebige Weise, dass ich zu vermuten begann, diese plötzlichen Auffälligkeiten müssten eine Bedeutung haben. Und es ist auch diese Vermutung, die mich noch heute beschäftigt, erst recht, da das darauf Folgende tatsächlich bemerkenswert ist und mein Leben entscheidend bestimmt hat.

Sie möchten gerne weiterlesen.
Bestellformular Das fehlende Portrait