Die Beichte des Henricus Faber

Leseprobe

Darauf habe ich gewartet: Auf des Schlüssels Drehung, die mich einsperrt. Einsperrt in eine Welt, die mich mehr und mehr in ihren Bann zieht, allmählich beginnt mein Leben zu verändern. Dabei hat alles so unscheinbar begonnen, mit einer Frage, einer, die nach der Antwort verlangte, warum der Maler Thomas Scheffler dem Nepomuk ein viel zu langes Bein gemalt hat. Und dass jeder, den ich danach gefragt habe, die Kuriosität noch nicht einmal wahrgenommen hatte, machte mich erst recht stutzig. Niemand schien sich je darüber Gedanken gemacht zu haben. In einem Bild - einem Fresko, um genauer zu sein -, in dem jede der unzähligen Personen und jedes noch so kleine Detail akkurat ausgeführt sind, soll das zu lange Bein der Fehler eines Schülers gewesen sein? Zu dieser Erklärung - ein Versuch immerhin, dem einzigen, der mir gemacht wurde - kam ein hiesiger Kunsthistoriker, dem die Kuriosität noch nicht einmal aufgefallen war.

So stand ich unter dem Hauptfresko der Studienkirche in Dillingen an der Donau und schaute auf den beschuhten Fuß des Nepomuk, denn der weist eigentlich auf das zu lange Bein hin - das Bein selber sieht man, da von Wolken verdeckt, nicht -, ohne zu ahnen, was die Suche nach einer Antwort alles mit sich bringen kann.
Ich habe mich also tatsächlich in die Studienkirche einsperren lassen, weil der Versuch, eine Antwort zu finden, dazu geführt hat, nun in die Jesuitengruft gelangen zu müssen. Ich hatte natürlich um den offiziellen, erlaubten Weg gebeten, aber der wurde mir verwehrt. Man könne es nicht gestatten anhand so vager Vermutungen, mich in Särgen nach einem Buch suchen zu lassen. Und da wurde mir wieder mal klar, wie sehr man in Verwaltungen vom Verständnis (oder der Laune?) einzelner abhängt. Was allerdings, wenn ich alles richtig gedeutet habe und das Buch finde? Gut, ich könnte natürlich sagen, sollte ich den Fund publik machen wollen, ich hätte das Buch sonst wo gefunden - Bücher in Särgen zu finden, ist ja nicht gerade das Naheliegendste -, aber da laut der Broschüre über die Jesuitengruft, die am Eingang der Kirche ausliegt, die Gruft vor knapp zehn Jahren, nach Untersuchungen und Restaurierungen, 2007 wieder verschlossen wurde - und dies beim letzten Mal vor über hundert Jahren geschah -, so kann ich davon ausgehen, dass mein Eindringen mit größter Wahrscheinlichkeit zu meinen Lebzeiten nicht entdeckt wird.

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