Vom Buche eines Reisenden

Leseprobe

Der Leidenschaft zum Schönen habe ich es zu verdanken, daß mir möglich ward zu erinnern eine denkwürdige Reise. Ein Advokat, belesen in Historie und Kunst, überließ mir die Aufzeichnungen eines jungen Reisenden aus den späten Siebzigern des neunzehnten Jahrhunderts. Aufgefunden im Nachlass des Baron Paul von Derwies, Schloßherr des Château de Trevano, dem eigentlichen Objekt der Geschichts-Begeisterung des Advokaten, wird das Aufgefundene mitunter zum wichtigen Dokument einer kurzen, aber glanzvollen Erscheinung des Châteaus. Vorwiegend sind die Notizen aber Reisetagebuch eines jungen Romantikers, Schrift, worin ein Mensch seiner Welt begegnet. Daß ich die Notizen unlektoriert ließ, hängt damit zusammen, daß ich dem so eigentümlichen Tagebuchstil seine Unmittelbarkeit nicht nehmen wollte. Ich meine damit Besonderes zu bewahren.
Über Trevano sei vorweg noch erwähnt, daß es ein Kleinod spätromantischer Kunstvorstellungen darstellte, geprägt von dessen geistigem Erbauer von Derwies, der mit erlesenem und exklusivem Kunstgeschmack Anmut und Großzügigkeit in einem Anwesen verband, worauf heute die Vulgarität zweckmäßiger Bauten den von Ehemaligem Wissenden demoralisiert. Von der schrecklichen Tat ergriffen, wie mit dem Abriß des Châteaus durch eine ausschließlich pekuniär orientierte Regierung geschehen, verweilt der Jurist immer mehr in der Erinnerung jener Einmaligkeit über der Luganeser Ebene, Hoffnung hegend, die in der Würdigung des Übriggebliebenen ihre Erfüllung zu finden hofft.

Das Jahr der Reise konnte ich anhand eines Eintrages über zwei Zeitungsartikel, von denen wir später mehr erfahren werden, eindeutig als das Jahr 1878 erkennen. Und so beginnen die Notizen mit der Eintragung:

Flüelen, den 25. Mai

Ein schöner Tag kündigt sich an. Die Sonne schickt ungehindert ihre ersten Strahlen über den Berg, die luminös felsige Spitzen auf der gegenüberliegenden Seite des Tales beleuchten; Flüelen und das Tal selbst liegen noch unbeschienen in frühmorgendlicher Ruhe. Heute setze ich meine Reise gen Süden mit der eidgenössischen Postkutsche fort, werde die beschwerliche und nicht ganz ungefährliche Fahrt über den St. Gotthardpaß angehen. Meiner Frage bei der Platzreservierung, wie lange die Überquerung des Alpenmassivs wohl dauere, folgte von den Postbediensteten sogleich die Antwort: "s' hänget vum wätter ab u vum tuefel", womit wohl gemeint war, daß Wetter und Schicksal die Reisedauer bestimmen würden. Angesichts der mächtigen Gebirgskette des St. Gotthard, die ich im hellen Morgenlichte aus einem Fenster der Herberge sehe, erscheint mir die Andeutung nun weitaus beängstigender.
Schon gestern auf dem Urner See, mit dem Dampfer von Luzern kommend, beeindruckte mich die gewaltige Kulisse, entdeckte mir jede Betrachtung auf dem verwinkelten Gewässer ein grandioses Naturgemälde. In der Ferne den gleissenden Firn erblickend, nachdem wir dem Schatten eines Berges entwichen, erregte sich mein Gefühl zu einer Faszination; atemlos blieb ich im Erstaunen. Meinen Mitreisenden erging es nicht anders, und als wir uns von der Bewunderung allmählich beruhigten, begannen wir untereinander mit begeisterten Worten, das was wir sahen zu beschreiben. Bei dieser Gelegenheit unterhielt ich mich mit einer in Sprache und Gestik sehr noblen Person. Und auch sonst; eine Erscheinung kultiviertesten Menschseins: feine Gesichtszüge, das Profil von langem, gewelltem Haar künstlerisch geprägt, von edler Gestalt und in feinem Tuch gekleidet: ich meinte zum überwältigenden Anblick der Berge, den Geist jener Pracht in dem Menschen vor mir zu erkennen. Wie freudig nahm ich nach der kurzen Unterhaltung die Einladung an mich des abends zu einem gemeinsamen Spaziergang einzufinden, um anschließend in der Herberge gemütlich zu speisen. Hoch erfreut empfand ich überdies die Tatsache, daß unsere Reiseroute außer dem Aufenthalt in einem Schloß bei Lugano, bis ins Lombardische sich ausnahmslos überschnitt. Und so schau' ich mit großer Erwartung in eine Bergwelt, zu der ich heute und in besonderer Begleitung vorstoßen werde. Diesen morgendlichen Flüchtigkeiten will ich abendliche Gedanken noch folgen lassen; vorerst sei's aber genug.

Andermatt, abends

Wir haben Andermatt erreicht. Abends 8 Uhr. Ganz ohne Verzögerungen war die Route durch die immensen Steinkolosse nicht zu bewältigen, zu viele unerwartete Schwierigkeiten stellten sich der Fahrt entgegen. Nicht selten kam nur mühsam der Wagen voran. Da waren eine Kuhherde, eine Ziegenherde, und als genüge es nicht auch noch eine Schafherde, noch vergnügliche Hindernisse. Die von Winterschäden stark in Mitleidenschaft gezogene Paßstraße war immer wieder nur mit äußerster Vorsicht zu befahren. Es sei ein strenger Winter gewesen, hieß es. Recht angenehm hingegen erweist sich die vierspännige Postkutsche, eine ausgeklügelte Federung der Karosse erspart uns manche Rauheit der unruhigen Trasse. Und wenn ich uns erwähne, uns Reisende, so meine ich außer mir noch vier andere Mitfahrer, namentlich: Baronin von Schatzberg-Kröll und ihr Diener, der seit der Abfahrt auf dem Bock sitzt und ich glaube nicht dies noch verändert zu sehen; Giancarlo Tagliaferri, ein italienischer Bankier und meine gestrige Bekanntschaft, Hendrik de Moos, ein Pianist auf Konzertreise.

An dieser Stelle sei mir als Übermittler erlaubt eine Individualisierung einzufügen, die nicht zu mehr dienen soll, als den Schreibenden vorzustellen, der sich ja in seinen Aufzeichnungen kaum seinen eigenen Namen zu notieren brauchte. Er hieß Olivier Pascal, und wie meine heraldischen Recherchen ergaben, gebürtig in der zweisprachigen Stadt Biel/Bienne. Der Vater welscher Herkunft, die Mutter deutscher, orientiert sich der Student Olivier ins Deutschschweizerische und besucht die Universität zu Bern. Das Studium der Philologie und Philosophie absolviert er mit beachtlichem Erfolg. Seine abschließende Arbeit über Torquato Tasso begeistert seinen wohlhabenden Tutor dermaßen, daß dieser dem Laureaten kurzerhand eine Reise in des großen Dichters Heimat finanzierte, eben diese, die zu beschreiben der Studiosus sich hier anschickt. Unglücklicherweise blieb weder ein Bild noch überhaupt eine Beschreibung Olivier Pascals erhalten. (Eine von Pascal in seinem Reisetagebuch erwähnte photographische Aufnahme bleibt verschollen.)
Das Einzige, was an ihn erinnert, ist das kleine handgeschriebene Büchlein, aus dem wir lesen, und daß sein Name nicht vollends in Vergessenheit geriet, ist einer Notiz auf einem Blatt Papier zu verdanken, das dem Buch nachträglich beigelegt wurde; Notiz, die von der Schrift her, der Hand von Baron von Derwies entstammen müßte. Zu dieser graphologischen Information verhalf mir wiederum der Advokat, der mir bereitwillig Einblick in sein umfangreich recherchiertes Material gewährte. So wird uns Olivier Pascal ein ungesehener Betrachter bleiben, dessen Charakter, Leidenschaften, Gefühle, dessen feinfühliges Wesen wir vorzüglich in seinen Aufzeichnungen nachempfinden können. Versuchen wir also den erwartungsvollen Jüngling in seinem Reisejournal kennenzulernen, zusätzlich mit seinen Augen und Empfindungen eine vergangene Zeit und Vergessenes entdeckend. Und so lesen wir weiter.

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