Franz Liszt

Werkbeschreibung von Marcus Bernard Hartmann


Ballade No. 2 h-moll
Funérailles
Vallée d'Obermann


Was uns Franz Liszt mit der h-moll Ballade No. 2 an klanglichen Kühnheiten, an pianistischer wie künstlerischer Ausdruckskraft hinterlässt, gehört zweifelsohne zum Interessantesten und Wertvollsten seines Schaffens. Schon die chromatischen Wogen des Anfangs, die das für eine Ballade typische, erzählerische erste Thema untermalen, sind innovativer Gestaltungsgeist, erneuernde, erweiternde Musiksprache. Deklamatorisch, von zuweilen üppigem Klang und konzertantem Schwung, ist das Werk von durch und durch Liszt'scher und romantischer Gestik geprägt. Wohl dosiert, sinnvoll und mit künstlerischer Verantwortung eingesetzt, können diese aufwendigen, orchestralen Klangmassen durchaus berechtigter Teil eines wertvollen Kunstwerkes sein, ohne nur wuchtig und wirkungsvoll zu bleiben.

Die Ballade findet im Disput, im mehrmaligen Wechsel zweier immer wieder kunstvoll veränderter Themen ihre kompositorische Struktur. Es entsteht ein spannungsreiches, mannigfaltiges Tongebilde, ausgewogen in der Behandlung der beiden gleichwertigen Themen, die sich in ihrem kontrastiven Verhältnis wie Korrelate zueinander verhalten und nur zusammen die Idee der Ballade verkörpern.

Verschwiegen bleibt eigenartigerweise die Inspirationsquelle, die bei Liszt meistens in der Überschrift schon deutlich zu vernehmen ist. Die Frage, warum sich der Komponist zu dieser für ihn seltenen Einstellung entschied, muss wohl unbeantwortet bleiben, wie auch die Suche nach der künstlerischen Idee willkürlich wäre. So gesehen gleicht Liszts Ballade dem Konzept derjenigen Chopins, deren Entstehung sich aus dem Charakter der literarischen Ballade ergibt, sich jedoch nicht auf eine bestimmte bezieht. Allerdings scheint der Gedanke absoluter Musik, die nur von der Kunstform Ballade inspirierte, bei Franz Liszt dennoch kaum wahrscheinlich. Das Unbestimmte kann so Eigenart des Werkes werden.


Revolutionären Persönlichkeiten des ungarischen Aufstandes von 1849 hat Franz Liszt diesen musikalischen Aufschrei, diese eindrucksvollen, betörenden Funérailles gewidmet. Sie sind vom Heldentum gerechten Kampfes und von tiefer Trauer beseelt, wuchtig im Schwall geballter Akkorde und von innigstem, elegischem Gesang.

Die gravitätisch schreitende Introduzione vermittelt gleich den ernsten Anspruch des Werkes. Ein konsequent und streng durchgehaltener Rhythmus, bedrohlich aufkommende Tremolando-Bässe suggerieren eine Dramatik deren eklatantester Augenblick sich vom vollen Klang der Akkorde löst und den Pathos nunmehr in einem Ton komprimiert; mit welcher Vehemenz ist da jenes verdoppelte Des zu spielen!

Im weiteren Verlauf findet die Thematik der Einleitung keine Verwendung mehr und ist eigentlich eine in sich abgeschlossene Episode. Die Funérailles, ein Trauermarsch, bilden nun den Kontrast und erinnern in ruhiger, lyrischer Haltung an den erlittenen Verlust, verklärend im Lagrimoso. Leidenschaftlich drängend baut sich, im vielleicht markantesten Abschnitt, eine fast beklemmende Spannung auf, die sich zur pompösen Marche funèbre ausweitet, der erneute Eintritt des Funérailles-Motives. Die Reprise des Lagrimoso kontrastiert, sublimierend, kaum eines Flüsterns gleich, bis das Werk nach einer letzten aufbrausenden Woge mit fast stoischer Vernunft in der Ruhe dreier lakonischer Staccato-Bässe verstummt.

In Musik stilisiert, finden wir in den Funérailles die geschichtlichen Ereignisse, die zu Liszts Lebzeiten ganz Europa erschütterten. Es herrschte Aufbruchstimmung, revolutionäre Unruhe, Länder suchten ihre Identität und wollten sie respektiert wissen. Der Grundsatz der Französischen Revolution fordert immer wieder sein Recht, immer mehr Menschen verlangten den individuellen Anspruch. Liszt setzte diesen Bemühungen ein musikalisches Denkmal.



Die Sehnsucht nach verwirklichten Idealen, das Streben nach Unendlichkeit, die Suche nach dem Gefühl des Seins, sind wesentliche Merkmale der Romantik. In der Idealisierung formt der Romantiker seine persönlichste Gedankenwelt zum Kunstwerk universeller Bedeutung. Caspar David Friedrich malt s e i n e Landschaft, sein Auge sieht, was sein Gemüt belichtet, er zeigt was er in der Betrachtung fühlt. Novalis lässt s e i n e n Heinrich nach den eigenen Sehnsüchten ringen und schreibt ein Meisterwerk versinnbildlichten Menschseins.

In diesem Verständnis nähern wir uns Étienne de Senancours Roman «Oberman». Senancour stilisiert jenes romantische Idol, das nach einer Wahrheit suchend, sich eine Ordnung schaffen will.

«Was bin ich? Was will ich?» fragt der nach Offenbarung strebende Geist. Franz Liszt war von diesem romantischen Helden geradezu fasziniert. Die Arbeit an der Vallée d'Obermann, ein Musik gewordenes Lebensgefühl, musste daher von großer Passion erfüllt gewesen sein. Ein erster Versuch, das Motiv der literarischen Vorlage zu vertonen, führte demgemäß zu einer überladenen, zu übermütigen Interpretation.

Aus der Überarbeitung entpuppte sich eine zweite, weitaus meisterlichere Fassung. Das Werk entsteht aus der thematischen Fülle eines einzigen musikalischen Gedankens, dem melodischen Reichtum einer eindringlichen, abfallenden Tonfolge. Ein erster Abschnitt sinniert, schwelgt in bezaubernder Klangfantasie, hier entlockt Liszt dem Thema seine Moll-Schattierung, seine Schwermut. Dieser Nachdenklichkeit entsteigt ein aufwühlendes Recitativo; die Musik wird dramatisiert, zu exstatischem Übermut getrieben, ein donnernder Oktavensturm wütet über der bisher besinnlichen Vallée.

Zunächst besänftigend erklingt nun der Gesang in des Themas Dur-Färbung, bald von euphorischer Zuversicht erfasst, steigert sich die freundliche Stimmung allmählich zum überschwänglichen Freudentaumel, doch es ergreift die letzten Takte noch der Weltschmerz einer romantischen Seele.

Des Obermanns Tal ist eine Landschaft, die wir in uns formen, deren Faszination wir mit der Leidenschaft unserer Empfindungen erleben.