Booklet-Text

zur CD mit Werken von Schumann und Liszt

von Marcus Bernard Hartmann


Schumanns Phantastik und Liszts Weltanschauung

Aus einem Brief Robert Schumanns: «Mit einiger Scheu lege ich ihnen ein Paket älterer Kompositionen von mir bei. Sie werden, was unreif, unvollendet an ihnen ist, leicht entdecken. Es sind meistens Widerspiegelungen meines wildbewegten früheren Lebens; Mensch und Musiker suchten sich immer gleichzeitig bei mir auszusprechen; es ist wohl auch noch jetzt so, wo ich mich freilich und auch meine Kunst mehr beherrschen gelernt habe. Wie viele Freuden und Leiden in diesem kleinen Häuflein Noten zusammen begraben liegen, ihr mitfühlendes Herz wird das herausfinden.» Diese wenigen Sätze eröffnen uns wie bedingungslos Schumann sich in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit setzte. Die Persönlichkeit als Ausgangspunkt des Kunstwerks: Eine Prämisse im Geiste der Romantik, die auf niemandens Schaffen uneingeschränkter zutrifft, als dem Komponisten der Kreisleriana, der Davidsbündlertänze, der Novelletten, der Phantasie op. 17, oder eben der Papillons und der Fis-Dur Romanze. Wie einfühlsam Schumann der Liebe, und damit wohl dem Menschsein, eine Stimme zu geben weiß, läßt uns der Terzengesang der Romanze erfahren. 'Einfach' ertönt hier die Musik im innigsten Ausdruck, tief erlebt in feinfühligstem Gemüt. Daß die Musik nie der Worte bedurfte, hören wir in der Romanze wundervollst bestätigt.

Extrovertierter, verspielter, brillanter, doch nie sinnentleert sind die Papillons op. 2 zu verstehen. Die Inspirationsquelle, (ein Kapitel aus Jean Pauls Flegeljahre) auf die Schumann selbst hinwies, erzählt von einem Larventanz, während dem die Werbung eines Verliebten durch den eigenen Bruder zum bloßen Vexierspiel wird: Der weltgewandte Vult narrt den träumerischen Walt. Der Vergleich mit Florestan und Eusebius - den zwei gegensätzlichen Charakteren in Schumanns Persönlichkeit - ist geradezu ostentativ. Hierzu vermittels Schumanns eigenen Worten eine Verdeutlichung: «Eusebius trat neulich leise zur Türe herein. Du kennst das ironische Lächeln auf dem blaßen Gesichte, mit dem er zu spannen sucht. Ich saß mit Florestan am Klavier. Florestan ist, wie du weißt, einer von jenen seltenen Musikmenschen, die alles Zukünftige, Neue, Außerordentliche schon wie lange vorher geahnt haben; das Seltsame ist ihnen im andern Augenblick nicht seltsam mehr; das Ungewöhnliche wird im Moment ihr Eigentum. Eusebius hingegen, so schwärmerisch als gelassen, zieht Blüte nach Blüte aus; er faßt schwerer, aber sicherer an, genießt seltener, aber langsamer und länger; dann ist auch sein Studium strenger und sein Vortrag im Klavierspiel besonnener, aber auch zarter und mechanisch vollendeter als der Florestans. »

Eine letzte Andeutung dieser knapp gefaßten Charakterisierung sei die Verehrung Schumanns zum Dichter Jean Paul, da sie eng mit der Entstehung der Papillons zu verbinden ist. Der achtzehnjährige Schumann schreibt: «Jean Paul nimmt noch den ersten Platz bei mir ein: und ich stelle ihn über alle, selbst Schillern (Goethen versteh' ich noch nicht) nicht ausgenommen.» Und so komponiert hernach der Zwanzigjährige sein op. 2, kurze und kürzeste Musikstücke, aneinandergereiht zu einem kaleidoskopartigen Ganzen. Anders als in den Kinderszenen, den Waldszenen, den Phantasiestücken op. 12 liegt Schumann, trotz der ihm so naheliegenden Überschrift-Suggestion und einem ersten Vorhaben, der Gedanke einer Betitelung jedes einzelnen Stückes schließlich fern, vielleicht weil sonst die Papillons eben dessen beraubt würden, was die Komposition und den phantastischen Maskenball Jean Pauls ausmacht: die Phantasie. Vielmehr sei die Atmosphäre, dieser wunderliche Abend, das listige Spiel des Vult, der seinem Bruder Walt die Geliebte ausspannt mit Zitaten aus dem Kapitel 'Larventanz' beschrieben: «Endlich geriet er, da er das hereinströmende Nebenzimmer prüfen wollte, in den wahren schallenden brennenden Saal voll wallender Gestalten und Hüte im Zauberrauch hinaus. ... Sogleich wurde er in den Tanzsturm geweht und half wehen, ... so berührte er leise, wie Schmetterlingsflügel, wie Aurikeln-Puder, Winas Rücken und begab sich in die möglichste Entfernung, um ihr lebenatmendes Gesicht anzuschauen. ... Nach dem Ende des deutschen Tanz ersuchte er sie ... gar um einen englischen, bloß damit er recht oft ihre Hand fassen und recht lange den guten Lippen und Augen gegenüberstehen könnte, ... Sie sagte leise: 'Ja.' Noch leiser hört' er seinen Namen; ... Es war Vult. ... 'Wenn du je Lieben für deinen Bruder getragen,' ... 'wenn du eine seiner flehentlichsten Bitten erhören willst: so ziehe dich aus;' ... Unter dem wechselseitigen Entpuppen und Verpuppen fiel Walt auf den Skrupel, ob er aber als Maskendame mit Wina, einer Dame, den versprochenen Englischen tanzen könne. ...Da schossen auf Vults dürrem Gesicht lebendige Mienen auf. ... 'Deine Walzer bisher, nimm nicht die Nachricht übel, liefen als gute mimische Nachahmungen, ... Aber dies ist nun alles so herrlich zu schlichten, als ich eben will. ...Denn ich tanze in deiner Maske die Angloise.' ... Wina erstaunte, weil sie den Fuhrmann Walt vor sich zu haben glaubte, dessen Stimme und Stimmung Vult wider Walts Voraussetzung hinter der Larve wahrhaft nachspiegelte, ... Jetzt hatt' er alles, nämlich ihr Liebes-Ja für seinen Scheinmenschen oder Rollenwalt, und lachte den wahren aus, der als Rolle und als Wahrheit noch bloße Hoffnung sei und habe; ... Wina und Vult waren nicht mehr zu finden; nach langem Suchen und Hoffen mußte er ohne Umtausch als Hoffnung nach Hause gehen. ... Noch aus der Gasse herauf hörte Walt entzückt die fliehenden Töne reden, ... »

Um nun einen Übergang zu Listzs Klangwelt zu finden, bedarf es eigentlich einer künstlerischen Schroffheit; aber sind nicht Gegensätze zuweilen vom Verlockensten? Liszts emphatischer Klavierton tönt eher in einer effektsuchenden Darstellung der künstlerischen Idee, und ihre Aussage ist die eines weltgewandten Künstlers. Zum Ausdruck kommt das Menschsein mit aufwendiger Klanglichkeit; geschwellter Brust entstammt der Ton. Und mit kontemplativer Kargheit wird dann der Kontrast geschaffen: den Oktaven-Stürmen der Vallée d'Obermann entsteigt ein der Einsamkeit abgerungenes Kantabile.

Liszt konnte in seinem Leben das Künstlertum voll ausleben. Er genoß den Erfolg als Virtuose ebenso wie die Zurückgezogenheit eines Abbés, die ausschweifenden Vergnügungen der Aristokratie ebenso wie die Bescheidenheit des Suchenden. Diese Kontraste sind deutlich auch in seiner Musik zu vernehmen, und insbesonders in den Funérailles und der Vallée d'Obermann.

Revolutionären Persönlichkeiten des ungarischen Aufstandes von 1849 hat Liszt diesen musikalischen Aufschrei, diese eindrucksvollen, betörenden Funérailles gewidmet. Sie sind vom Heldentum gerechten Kampfes und von tiefer Trauer beseelt, wuchtig im Schwall geballter Akkorde und von innigstem, elegischem Gesang. Die gravitätisch schreitende Introduzione vermittelt gleich den ernsten Anspruch des Werkes. Ein konsequent und streng durchgehaltener Rhythmus, bedrohlich aufkommende Tremolando-Bässe suggerieren eine Dramatik deren eklatantester Augenblick sich vom vollen Klang der Akkorde löst und den Pathos nunmehr in einem Ton komprimiert; mit welcher Vehemenz ist da jenes verdoppelte Des zu spielen!

Im weiteren Verlauf findet die Thematik der Einleitung keine Verwendung mehr und ist eigentlich eine in sich abgeschlossene Episode. Die Funérailles, ein Trauermarsch, bilden nun den Kontrast und erinnern in ruhiger, lyrischer Haltung an den erlittenen Verlust, verklärend im Lagrimoso. Leidenschaftlich drängend baut sich, im vielleicht markantesten Abschnitt, eine fast beklemmende Spannung auf, die sich zur pompösen Marche funèbre ausweitet, der erneute Eintritt des Funérailles-Motives. Die Reprise des Lagrimoso kontrastiert, sublimierend, kaum eines Flüsterns gleich, bis das Werk nach einer letzten aufbrausenden Woge mit fast stoischer Vernunft in der Ruhe dreier lakonischer Staccato-Bässe verstummt. In Musik stilisiert finden wir in den Funérailles die geschichtlichen Ereignisse, die zu Liszts Lebzeiten ganz Europa erschütterten. Es herrschte Aufbruchstimmung, revolutionäre Unruhe, Länder suchten ihre Identität und wollten sie respektiert wissen. Der Grundsatz der französischen Revolution forderte immer wieder sein Recht, immer mehr Menschen verlangten den individuellen Anspruch. Liszt setzte diesen Bemühungen ein musikalisches Denkmal.

Die Sehnsucht nach verwirklichten Idealen, das Streben nach Unendlichkeit, die Suche nach dem Gefühl des Seins, sind wesentliche Merkmale der Romantik. In der Idealisierung formt der Romantiker seine persönlichste Gedankenwelt zum Kunstwerk universeller Bedeutung. Caspar David Friedrich malt s e i n e Landschaft, sein Auge sieht, was sein Gemüt belichtet, er zeigt was er in der Betrachtung fühlt. Novalis läßt seinen Heinrich nach den eigenen Sehnsüchten ringen und schreibt ein Meisterwerk versinnbildlichten Menschseins.

In diesem Verständnis nähern wir uns Etienne de Senancours Roman Oberman. Senancour stilisiert jenes romantische Idol, das nach einer Wahrheit suchend, sich eine Ordnung schaffen will.

»Was bin ich? Was will ich?« fragt der nach Offenbarung strebende Geist.

Franz Liszt war von diesem romantischen Helden geradezu faszinert. Die Arbeit an der Vallée d'Obermann, ein Musik gewordenes Lebensgefühl, mußte daher von großer Passion erfüllt gewesen sein. Ein erster Versuch, das Motiv der literarischen Vorlage zu vertonen, führte demgemäß zu einer überladenen, zu übermütigen Interpretation. Aus der Überarbeitung entpuppte sich eine zweite, weitaus meisterlichere Fassung. Das Werk entsteht aus der thematischen Fülle eines einzigen musikalischen Gedankens, dem melodischen Reichtum einer eindringlichen, abfallenden Tonfolge. Ein erster Abschnitt sinniert, schwelgt in bezaubernder Klangphantasie, hier entlockt Liszt dem Thema seine Moll-Schattierung, seine Schwermut. Dieser Nachdenklichkeit entsteigt ein aufwühlendes Recitativo; die Musik wird dramatisiert, zu extatischem Übermut getrieben, ein donnernder Oktavensturm wütet über der bisher besinnlichen Vallée. Zunächst besänftigend erklingt nun der Gesang in des Themas Dur-Färbung, bald von euphorischer Zuversicht erfaßt, steigert sich die freundliche Stimmung allmählich zum überschwenglichen Freudentaumel, doch es ergreift die letzten Takte noch der Weltschmerz einer romantischen Seele. Des Obermanns Tal ist eine Landschaft, die wir in uns formen, deren Faszination wir mit der Leidenschaft unserer Empfindungen erleben.